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Orgelstudienreise nach Nordböhmen 2.-6.10.2023

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Die Gesellschaft der Orgelfreunde veranstaltet eine Orgelstudienreise nach Nordböhmen: in den jeweils nordöstlichen Teil des Bistums Leitmeritz/Litoměřice bzw. des Nordböhmischen Bezirkes (Severočeský kraj). Unter der sachkundigen Führung von Radek Rejšek (Organologe des Bistums Leitmeritz/Litoměřice), Reiseleitung von Jiří Kocourek und Eberhard Knebel werden fast 20 Orgeln besichtigt, die einen repräsentativen Überblick über den böhmischen Orgelbau ermöglichen, beginnend mit der Renaissance-Orgel im Dom zu Leitmeritz/Litoměřice 1627 bis zur dortigen Hauptorgel von 1941. Die Auswahl umfasst Orgeln in allen Größen und Stilrichtungen, vom Positiv bis zur viermanualigen Domorgel. Den Abschluss bildet die einst böhmische Oberlausitz mit Herrnhut, das 1722 evangelische Exulanten aus Böhmen gründeten.

Die nordböhmische Region ist geprägt durch das jahrhundertelange Zusammenleben deutsch- und tschechischsprachiger Menschen: Erstere in den Regionen entlang der Grenze, letztere zum Inland hin. Diese haben die gemeinsame Kultur der Kirchen und ihrer Orgeln geprägt – ebenso wie die Gegenreformation mit der katholischen Liturgie und der enorme Aufschwung des Kirchen- und Orgelbaus während der gesamten Barockzeit. Während des Barock wird der Orgelbau vor allem durch eine Vielzahl kleiner Werkstätten getragen. Stilistisch entsprechen sie der österreichisch-böhmischen Barockorgel: strahlender silbriger Principalchor, oft bis zum 1‘ durchgebaut; das typische Paar Copula major und Copula minor aus Holz; kurze Oktave; fast keine Zungenstimmen, dafür feine Streicher; Pedal nur mit Bassregistern und nicht ankoppelbar; seit Mitte des 18. Jahrhunderts frei stehende Spieltische mit Blick zum Altar; prachtvoll gestaltete Orgelgehäuse, oft mehrteilig und mit Rückpositiv, welches weniger als Solowerk, sondern als Continuopositiv für die reiche barocke Kirchenmusik diente.

Die josephinischen Reformen brachten einen quantitativen Einbruch im Orgelbau, dafür eine Reihe von Orgelumsetzungen. Die napoleonischen Kriege verlängerten die Magerperiode. Erst im 2. Viertel des 19. Jahrhunderts begann ein neuer Aufschwung. Zunehmend konzentrierte sich das Neubaugeschehen nun auf einige größere Werkstätten, die die Region belieferten: Josef Prediger in Albrechtsdorf im Isergebirge/Albrechtice sowie die Gebr. Feller in Königswald/Libouchec (bei Aussig/Ůstí n. L.). Moderne Tendenzen wie romantische Grundstimmen, lange Oktaven, Spielhilfen setzten sich erst ab der Jahrhundertmitte durch. Ab Ende des 19. Jahrhunderts prägten dann immer mehr die großen Orgelbaufabriken das Neubaugeschehen, die mit ihren spezialisierten Mitarbeitern und Maschinenausrüstung hochwertige und moderne Orgeln schnell liefern konnten: die große Firma Rieger in Jägerndorf/Krnov sowie Karl Schiffner aus Böhmisch Leipa/Česká Lípa und Heinrich Schiffner aus Prag/Praha. Im deutschsprachigen Gebiet konnten auch deutsche Orgelbauer Aufträge realisieren: Hermann Eule aus Bautzen, Andreas Schuster aus Zittau, Gebr. Jehmlich aus Dresden u. a.

Die Vertreibung des Großteils der deutschen Bevölkerung und die Zeit des Kommunismus führten zu einem massiven Zurückdrängen des kirchlichen Lebens. Viele Kirchen wurden wenig oder gar nicht mehr genutzt, die kleinen Gemeinden hatten keine Möglichkeit, sie adäquat zu erhalten – und die Orgeln noch weniger. Verfall, teils Vandalismus und Diebstähle betrafen viele Kirchen und ihre Orgeln und führten zu oft irreversiblen Verlusten. Nur wenige Orgelbauer waren noch aktiv, um Instrumente pflegen zu können – mit begrenzten Mitteln. Nach 1990 öffneten sich neue Möglichkeiten, Kirchen und Orgeln zu retten und zu restaurieren. Zunehmend etablierten sich auch professionelle Orgelbauer, die denkmalpflegerisch adäquate Instandhaltungen und Restaurierungen ausführen konnten. Einige wertvolle Orgeln konnten aus aufgegebenen Kirchen umgesetzt und gerettet werden. Doch dies betrifft nur einen kleinen Teil der Orgeln. Viele Instrumente sind bis heute in halbwegs spielbarem, schlechtem oder gar unspielbarem Zustand und bedürften großherziger Förderer, um restauriert zu werden. Neubauten wie in Mělník (Kánský & Brachtl 2014) blieben eine Seltenheit.

Als weiterführende Einführung wird empfohlen: Jiří Kocourek, Orgelland Böhmen, in: Ars Organi, Heft 1/2009, S. 5-18.