Veröffentlichungen

ACTA ORGANOLOGICA 36 - Kurze Zusammenfassungen

Martin Blindow

Zur Diskussion über die d-Moll-Toccata BWV 565

Die "Toccata und Fuge d-Moll" ist zweifellos das bekannteste Orgelwerk von Johann Sebastian Bach. Sie ist zwar nicht seine bedeutendste Komposition, fasziniert aber Spieler und Hörer immer wieder durch ihren lebendigen und abwechslungsreichen Charakter. Der junge Mendelssohn war von diesem Werk begeistert. Die Behauptung, es stamme aus der Hand eines anderen Komponisten, ist abzulehnen. Ein Bachscher Autograph fehlt leider. Die als Quelle dienende Kopie, die der Organist Johannes Ringk (1717–1778) in jungen Jahren angefertigt hat, geht wahrscheinlich auf eine Abschrift aus dem Umkreis von Bach zurück. Zahlreiche Notenbeispiele zeigen kompositorische Besonderheiten dieses außergewöhnlichen Werks auf.

[Acta Organologica 36, 2019, 401-429]


Max Reinhard Jaehn

Klarheit über Richard Wagners „Rheingold“-Orgel

Richard Wagner wollte im Jahre 1876 bei der ersten Festspiel-Aufführung des „Ring des Nibelungen“ in Bayreuth im Orchestervorspiel von „Rheingold“ die tiefe Lage der Kontrabässe durch ein geeignetes Instrument verstärken. Ein zunächst angeschafftes Harmonium (Estay, 1876) bewährte sich nicht, ebenso eine danach gelieferte kleine Orgel mit Subbass 16' (Johann Wolf, 1876). Erst nach dem Umbau auf vier Einzelpfeifen (Ton Es) in tiefer Klanglage kam die gewünschte Klangerweiterung zustande.
Die Orgel im Bayreuther Orchestergraben ist verloren, aber in einer in Schwerin erhaltenen Bühnenorgel konnte eine 1888 gefertigte Kopie des Bayreuther Pfeifenkomposits (Friedrich III Friese 1883 u. 1888; Friedrich A. Mehmel, 1886) gefunden werden, die heute noch erklingt. Sie gibt uns über die orgeltechnische Erkenntnis hinaus die Möglichkeit, den differenzierten Einsatz der Orgeltöne im Verlauf des „Rheingold“-Vorspiels zu rekonstruieren, nachdem die Wagnersche Anweisung in den Notentext neuer Ausgaben übernommen worden ist.

[Acta Organologica 36, 2019, 201-220]


Andreas Kitschke

Ein bisher unbekanntes Umbauprojekt Joachim Wagners: Köslin, 1739.
Neue Erkenntnisse über den Orgelbauer Daniel Tamm

1. Ein Aktenfund im Staatsarchiv Stettin erbrachte ein bisher unbekanntes Projekt des Berliner Orgelbauers Joachim Wagner (1690–1749) für den Umbau der Orgel von St. Marien zu Köslin in Pommern (heute Koszalin, PL) Diese war 1603–06 von Paul Lüdemann (1572–1636) aus Pasewalk erbaut und 1690 nach einem Blitzeinschlag vom Orgelbauer Aron Thun († 1714) aus Kolberg reparierte umgebaut worden. Wagner sah vor, sie im Tonumfang zu vergrößern, neue Windladen zu bauen und die Disposition (III/P/42) seinen Intentionen entsprechend umzugestalten. Die Gemeinde konnte jedoch die dafür geforderten 1.100 Taler nicht aufbringen. Es blieb aber letzlich bei einer Reparatur der schlimmsten Defekte durch Wagners Gesellen Daniel Tamm.
2. Dieselbe Quelle enthält auch Unterlagen über den wenig bekannten Orgelbauer Daniel Tamm (1711–1755). Dieser wollte nämlich die Orgel von Köslin zu einem billigeren Preis als Wagner umbauen (III/P/37). Dazu kam es zwar nicht, aber es sind in der genannten Archivalie auch die Atteste von 1744 über die bisherigen Tätigkeiten Tamms erhalten. Aus diese geht hervor:
Tamm hat 1741 als Geselle von Caspar Sperling († 1743) am Umbau der Orgel (III/P/41) in St. Jakobi zu Rostock mitgewirkt.
Gegen Ende 1741 stellte er in Deyelsdorf ein Instrument auf, das Arp Schnitger für den Hauptpastor an St. Jacobi zu Hamburg als Hausorgel (I/oP/6) gebaut hatte.
Im Frühjahr 1742 reparierte Tamm in Ribnitz die Orgeln der Stadtkirche (85 Taler) und der Klosterkirche (26 Taler).
Es folgten Reparaturen in Pyritz (Stadtkirche St. Marien und Hospitalkirche Heilig-Geist) sowie die Instandsetzung der Orgel in der Schlosskirche zu Stolp in Pommern (August 1743).
1750: Drossen, St. Jakobi, neue zweimanualige Orgel. Tamm starb 1755. Sein Schüler Werner Gottlieb Christoph Kegel übernahm die Werkstatt in Frankfurt an der Oder.

[Acta Organologica 36, 2019, 57-86]


Stein Johannes Kolnes

Zwischen kirchlichem Volksgesang und nordeuropäischer Orgelkultur.
Die Choralbegleitung auf der Orgel im 18. und 19. Jahrhundert in Norwegen

Die Einführung des Gesangbuchs des orthodoxen Lutheraners Thomas Kingos im Jahre 1699 erbrachte in Norwegen ein Aufblühen des volkstümlichen geistlichen Gesanges mit sich. Dies führte im 18. Jahrhundert zu einer Trennung zwischen den Kirchengesang in den Landgebieten, wo den Gesang oft von einem wenig geschulten Vorsänger geleitet wurde, und dem Gesang in den größeren Städten, wo ein Kantor mit seinem Lateinschülerchor und ein Organist vorhanden waren.
In den ländlichen Gebieten Ost-Norwegens entwickelte sich im 18. Jahrhundert eine eigenartige Orgelkultur mit hinterspieligen Schrankorgeln. Handgeschriebene Choralbücher deuten darauf hin, dass die Organisten sich den lokalen Melodieformen anpassten. In den Küstenorten und bedeutenderen Gebirgsstädten orientierten sich die allgemeine Musikkultur und die Orgelkultur mehr an den kontinentalen Vorbildern.
Beide Kulturen verschmolzen im 19. Jahrhundert allmählich miteinander. Die alte einheimische Orgelbautradition erlosch, und der 1835 eingewanderte Marcussen-Schüler P. A. Albrechtsen begründete eine neue Tradition. Gleichzeitig setzten sich in den neu gegründeten Lehrerseminaren die Bestrebungen nach Vereinheitlichung des Kirchengesangs langsam aber sicher durch, und es kam schließlich zum Verschwinden aller lokalen Besonderheiten. In den 1870er-Jahren fand die mechanische Kegellade Eingang in den Orgelbau. Die Gründung der Organistenschule (später Musikkonservatorium) in Christiania (heute: Oslo) und die Einführung neuer liturgischer Ordnungen fielen in die 1880er-Jahre. Trotzdem war bis in das frühe 20. Jahrhundert hinein noch nicht in allen norwegischen Kirchen eine Orgel oder ein Harmonium vorhanden. Aber auch das Vorhandensein einer Orgel und eines Choralbuchs musste nicht ohne weiteres bedeuten, dass alles wirklich notengetreu gesungen und gespielt wurde.

[Acta Organologica 36, 2019, 87-116]


Hartmut Müller

Orgelgeschichte der Stadt Alzey

Die Orgelgeschichte der evangelischen Nikolaikirche zu Alzey (Rheinland-Pfalz) reicht bis in das 15. Jahrhundert zurück. Im 18. Jahrhundert erbaute wahrscheinlich Johann Michael Stumm (1683–1747) eine neue Orgel, die bis zur Schließung der Kirche im Jahre 1929 (wegen Baufälligkeit) bestand, wenngleich zuletzt in sehr schlechtem Zustand. Nach der Restaurierung und Wiedereröffnung der Kirche im Jahre 1934 wurde zunächst eine kleine Orgel von Heinrich Bechstein (1895) als Interimsinstrument aufgestellt. Ihr folgte erst im Jahre 1956 eine Orgel der Gebr. Oberlinger, die im Jahre 1997 durch die Beckerath-Orgel aus dem Kloster Knechsteden (1976) ersetzt wurde (III/P/41). 2002 lieferte Andreas M. Ott ein Truhenpositiv mit fünf Registern.
Die „Kleine Kirche“ erhielt im Jahre 1736 eine Orgel von Joh. Michael Stumm (II/P/19), die 1881–82 von Carl Landolt umgebaut wurde. Im 20. Jahrhundert erfolgten weitere Umbauten bis zur Restaurierung durch Förster & Nicolaus in den Jahren 1989–98.
Für katholische Pfarrkirche St. Joseph baute ebenfalls Joh. Michael Stumm im Jahre 1743 eine Orgel (II/P/20). In deren Gehäuse baute Michael Körfer 1918 eine neue Orgel (II/P/18) mit pneumatischer Traktur ein. 1967 erhielt die Kirche eine neue Orgel von Emanuel II Kemper (II/P/20) mit elektropneumatischer Traktur, auf die im Jahre 2006 ein neues Instrument ((II/P/21) von Martin Vier mit Extensionen und "Wechselschleifen" folgte.
In der Kapelle der "Rheinhessen-Fachklinik" steht seit 1908 eine Orgel von Heinrich Bechstein (II/P/7).
Die 1854 eingeweihte Alzeyer Synagoge besaß ebenfalls eine Orgel, über die leider sonst nichts bekannt ist. Sie wurde zusammen mit der Synagoge in der Nacht 9./10. November 1938 zerstört.

[Acta Organologica 36, 2019, 9-56]


Alfred Reichling / Matthias Reichling

Die Requirierung der Orgel-Prospektpfeifen in Deutschland während des Ersten Weltkriegs

Bereits im Dezember 1914 stellte es sich heraus, dass die Idee eines "kurzen Krieges" für Deutschland ein bloßer Wunschtraum gewesen war. Das anfängliche Vorwärtsstürmen wich, einmal gestoppt, im Westen bald einem Stellungskrieg. Dieser führte nur zu geringen Frontveränderungen, dafür aber – je länger, desto stärker – zu enormen Verlusten an Menschen und Kriegsmaterialien und zugleich zur Verwüstung von vielen Orten und ganzen Landstrichen. Bald machte sich ein Mangel an Rohstoffen für die Kriegsindustrie bemerkbar, so dass die Heimat in zunehmendem Maße zu Spenden aufgerufen wurde, die vor allem dem Mangel an Kupfer  und Zinn entgegenwirken sollten.
Schließlich kam es am 10. Januar 1917 zu einer Verordnung zur Enteignung der Orgel-Prospektpfeifen, um aus ihnen reines Zinn zu gewinnen, und zwei Monate später wurden die Glocken von den Kirchtürmen geholt, um aus ihnen Kupfer und Zinn zu gewinnen. Diese Aktionen wurden vom preußischen Kriegsministerium mit seinen untergeordneten Stellen bereits im Jahre 1916 bis in bürokratische Einzelheiten vorbereitet; in fachlichen Fragen hatte man sich bei einigen Orgelbauern erkundigt.
Die Gemeinden hatten zunächst die Anzahl der Prospektpfeifen und ihr geschätztes Gewicht zu melden. Ihnen wurde dann ein Termin gesetzt, bis zu dem die Pfeifen an einer Sammelstelle abzuliefern waren. Für das abgelieferte Metall wurde eine Entschädigung bezahlt. Der Ausbau sollte durch Orgelbauer vorgenommen werden, die eine Prospektskizze anzufertigen und die Mensuren aufzunehmen hatten, um später passende Ersatzpfeifen einbauen zu können. Der Verein der Orgelbaumeister Deutschlands handelte mit dem Kriegsministerium die Einzelheiten aus. Die ganze Aktion sollte bis zum 31. Juli 1917 beendet sein. Viele Gemeinden versuchten aber, die Ablieferung möglichst lange hinauszuschieben, sodass sich der Ausbau länger hinzog als geplant.
Historisch oder künstlerisch wertvolle Pfeifen sollten von der Beschlagnahme ausgenommen werden. Zur Begutachtung wurden zumeist die Denkmalbehörden der einzelnen Länder herangezogen. Diese gingen bei der Befreiung unterschiedlich vor, sodass zum Beispiel in Bayern prozentual viel mehr Orgeln befreit wurden als in Preußen. Nachdem die Ausbeute an Zinn geringer ausgefallen war als erwartet, sollten 1918 alle bisher befreiten Orgeln nach einheitlichen, verschärften Kriterien nochmals überprüft werden. Dies zog sich aber bis zum Herbst hin, sodass vor Kriegsende glücklicherweise nicht mehr viele Pfeifen ausgebaut wurden. Dadurch blieben vor allem in Bayern in vielen Barockorgeln die originalen Prospektpfeifen bis heute erhalten.
Viele Gemeinden hofften, noch während des Kriegs einen Ersatz der abgelieferten Pfeifen durch Zinkpfeifen zu erhalten. Nachdem aber auch das Zink knapp war, gelang dies nur in wenigen Fällen.
Auch in den besetzt Gebieten Frankreichs und in Polen wurden Orgelpfeifen ausgebaut, in Frankreich meistens sogar sämtliche Metallpfeifen, nicht nur die Prospektpfeifen. Im besetzten Belgien war der Ausbau zwar vorgesehen, wurde aber– von Ausnahmen abgesehen – aus politischen Gründen nicht durchgeführt.
Der bis zuletzt erhoffte Sieg blieb aus, und letztlich führte alles lediglich zu einem gewaltigen Verlust an wertvollem Kulturgut.

[Acta Organologica 36, 2019, 221-400]


Franz-Josef Vogt

Die Kölner Orgelbauwerkstatt Wilhelm Schaeben

Neben den im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts überregional tätigen Orgelbaufirmen, wie Engelbert Maaß (1781–1850), Franz Wilhelm Sonreck (1822–1900) und Ernst Seifert sen. (1855–1928), gab es in Köln auch eine Anzahl von Werkstätten, die in der Hauptsache Reparaturen und Umbauten ausführten, aber auch kleinere Orgeln bauten. Zur diesen gehörte das Unternehmen von Wilhelm Schaeben sen. (1833–1903), einem Schüler von Sonreck, und dessen Sohn Wilhelm jun. (1873–1915?). Wegen der Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg existiert kein Firmennachlass. Deshalb ist die Zusammenstellung eines Werkverzeichnisses mit Schwierigkeiten verbunden. Soweit aber zu erkennen, fällt die Tätigkeit dieses Betriebs in die Zeit des Übergangs von der mechanischen zur pneumatischen Traktur. Man scheint (wie auch andere Kollegen) erhebliche Schwierigkeiten mit dem neuen System gehabt zu haben, was zumindest in einem Fall dazu geführt hat, dass der Konkurrent Ernst Seifert sen. ein Schaeben-Instrument technisch überarbeiten musste.

[Acta Organologica 36, 2019, 165-200]


Axel Wilberg

Die Orgelbauer Kalscheuer in Nörvenich

Die Werkstatt der Gebr. Kalscheuer in Nörvenich war eine der weniger bedeutenden Orgelbaubetriebe des Rheinlands im 19. Jahrhundert. Ihr Hauptwirkungsgebiet lag in der Gegend von Nörvenich, zwischen Köln und Aachen. Sie führte zahlreiche Umbauten und meist kleinere Neubauten aus. Der Leiter der Werkstatt war Jakob Kalscheuer (1822–1883). Sein Bruder und Mitarbeiter Heinrich Kalscheuer wird in den Archivalien kaum je genannt.
Die Firma lieferte preisgünstig kleinere Instrumente für finanzschwache Kirchengemeinden. Dabei wurde oft vorhandenes Material wieder verwendet. Die Orgeln basieren auf einem von Kalscheuer so genannten "Doublettensystem", einer Transmissionswindlade, bei der die leisen Register auch auf einem zweiten Manual spielbar sind. Die Disposition entspricht daher oft der einer größeren einmanualigen Orgel. Diese Transmissionen wurden in zwei Varianten gebaut: Die kompliziertere erlaubt es, die Register unabhängig voneinander auf beiden Manualen zu gebrauchen, die einfachere und häufiger vorkommende hingegen lässt ein Transmissionsregister auf beiden Manualen erklingen, sobald es gezogen ist. Der dadurch ermöglichte schnelle Wechsel zwischen piano und forte trug den Erfordernissen der damaligen katholischen Praxis des Orgelspiels Rechnung.
Die erhaltenen Instrumente zeigen einen weitgehend konservativen Baustil, der Ähnlichkeiten mit dem anderer rheinischer Orgelbauer des 19. Jh. aufweist (z. B. Franz Schorn). Die Orgeln Kalscheuers sind – soweit heute noch zu erkennen – einfach, aber solide gebaut und in erster Linie zur Begleitung der Kirchengesänge gedacht.

[Acta Organologica 36, 2019, 117-164]