Veröffentlichungen
ACTA ORGANOLOGICA 27 - Kurze Zusammenfassungen
Christian Ahrens / Jonas Braasch
Die "japanischen" Register der Klais-Orgel in der Kyoto Concert Hall, Japan
Obwohl es in Japan nicht ungewöhnlich ist, einzelne Orgelregister nach traditionellen japanischen Instrumenten zu benennen, ist die Klais-Orgel in Kyoto weltweit die einzige, die - neben einer französischen und einer deutschen Sektion - eine japanische Sektion mit vier nach tradtionellen Instrumenten entworfenen Registern enthält: Shakuhachi, Shinobue, Shô und Hichiriki.
Während die Register Shakuhachi 8' und Shinobue 4' als Labialregister realisiert wurden, sind die Register Shô 8' und Hichiriki 8' mit Durchschlagzungen versehen. Von den 'japanischen' Orgelregistern wurden Einzeltonaufnahmen angefertigt, bezüglich des Klangspektrums, des Einschwingverhaltens und des Grundfrequenzverlaufs beim Einschwingvorgang analysiert und mit den Klangspektren der entsprechenden traditionellen japanischen Instrumenten verglichen. Die Analyse zeigt, daß die Klangcharakterstik der traditionellen Instrumente gut imitiert werden konnte.
Anschließend wird diskutiert, wie diese besondere Orgel in die moderne japanische Konzeption, traditionelle japanische und westliche Instrumente zu verbinden, intergriert werden kann. Besondere Berücksichtigung findet dabei die Tatsache, daß eine Reihe von Spieltechniken japanischer Instrumente, wie z. B. die starke dynamische Strukturierung des Einzeltones, bei einer Orgel nicht imitiert werden können.
[Acta Organologica 27, 2001, 147-178]
Klaus Aringer
Zum Spielvorgang des Beginnens und Schließens in der ältesten Orgelmusik
Beginnen und Schließen erscheinen in den ältesten Quellen der Orgelmusik als eng aufeinander bezogene, parallele Spielvorgänge. Sowohl in den Bearbeitungen eines Cantus firmus als auch in der Gattung des Praeludiums werden Anfang und Schluss durch eine Klangfiguration über orgelpunktartig gedehnten Grundtönen hervorgehoben. Als spezifisches Merkmal tasteninstrumentalen Beginnens tritt häufig eine kurze Schleiferfigur der rechten Hand hinzu. Die gleichartige musikalische Behandlung macht Beginnen und Schließen zu grundlegenden formalen Bestandteilen von Improvisationsmodellen. Die Terminologie der Organisten des 15. Jahrhunderts besitzt nur für den Schluss eigene Begriffe ("Pausa", "Finale"); umgekehrt bezeichnet "Praeludium" noch bis in das 18. Jahrhundert hinein auch das Nachspiel.
[Acta Organologica 27, 2001, 249-258]
Claus Bockmaier
Tactus und Mensura:
Überlegungen zu einer Primärtechnik der Tastenmusik, ausgehend von Adam Ileborgh
Dreh- und Angelpunkt der Tastenspiellehre im deutschen Bereich des 15. Jahrhunderts ist der Tactus: eine Spielformel oder Spielformelkombination, die durch ihre je konstante Ausdehnung aber zugleich eine metrische Bestimmung einschließt. Darüber hinaus werden sogar entsprechende Übungsbeispiele oder ganze Stücke so genannt. Gegenüber dieser instrumentalen Bezeichnung eines konkreten musikalischen Vorgangs kennzeichnet der in der Theorie des Vokalsatzes beheimatete Begriff Mensura zunächst das materielose Zeitmaß der Musik. Auch er taucht aber im Feld der frühen Tastenmusik mit auf, wobei er seinerseits auf die metrische Verfassung des einzelnen Stückes Bezug nimmt, die hier elementar durch die betreffende Anzahl der maßgebenden Formeltöne bzw. abstrakter der Zählzeiten je Zeiteinheit, z. B. quatuor oder trium notarum, festgelegt ist.
In diesem Sinne sind auch die von Adam Ileborgh in seiner Tabulatur als Mensurae vorgestellen Tenorbearbeitungen zu verstehen. Im Spektrum der Tastenmusik des 15. Jahrhunderts repräsentieren sie eine erfindungsreiche Stufe, die zwischen der Elementarpraxis gemäß der Tactus-Lehre und der fortschrittlichen Ebene Paumanns und des Buxheimer Orgelbuchs steht. Trotz vielfältiger Variierung innerhalb der Tactus bleibt hier die unmittelbare metrische Bindung des Spielvorgangs an deren konstante Zeiteinheit weitgehend gewahrt.
Im Bereich der Cantus-firmus-Bearbeitung läßt sich diese im Tactus-Prinzip begründete Tendenz zu klarer metrischer Formierung auch im weiteren geschichtlichen Zusammenhang der Tastenmusik, bis hin zu J. S. Bach, nachweisen. Zumal aber entsprechende Gestaltungsmuster gegebenenfalls auf andere instrumentale Gattungen übertragen werden, offenbart sich damit ein Mitwirken jener Primärtechnik des Tastenspiels nicht zuletzt bei der Ausprägung des "modernen" Taktes. Und wie etwa an Beispielen aus Klaviersonaten von Mozart zu sehen ist, hat der metrisch gliedernde Spielvorgang als solcher sogar noch in dem besonderen Taktbegriff der Wiener Klassiker seine Bedeutung.
[Acta Organologica 27, 2001, 259-278]
Felix Friedrich
Christian Förner und die Orgel der Schlosskirche zu Weißenfels
Die Schrift von Johann Caspar Trost über die Orgel in der Schlosskirche St. Trinitatis der Augustusburg zu Weißenfels gehört zu den bemerkenswertesten orgelkundlichen Publikationen des 17. Jahrhunderts. Erbaut wurde diese Orgel mit 30 Registern von Christian Förner (1610-1678?) im Jahre 1673. Das Instrument spielt auch in den Biographien von Johann Sebastian Bach und Georg Friedrich Händel eine Rolle. Heute ist leider nur noch das Gehäuse erhalten.
Mit dem Namen Förner sind wichtige Erfindungen der Orgelbaukunst verbunden, vor allem die oft zitierte Windwaage. Johann Caspar Trost beschreibt wichtige Aspekte der Orgelbaukunst von Förner, sowohl technische Details als auch die Temperierung.
Ein entfernter Verwandter von Förner war der berühmte thüringische Orgelbauer Tobias Heinrich Gottfried Trost (ca. 1681-1759), dessen Orgelbaustil ebenfalls von Experimentierfreudigkeit zeugt.
[Acta Organologica 27, 2001, 21-108]
Michael Gerhard Kaufmann
Wandlungen des Klangideals am Beispiel der Silbermann-Orgel in St. Stephan zu Karlsruhe
Johann Andreas Silbermann erbaute in den Jahren 1772-1775 für die Benediktinerabtei St. Blasien im Schwarzwald eine Orgel mit 47 Registern, die weit über die Grenzen des Oberrheins hinaus bekannt wurde. Nach der Aufhebung des Klosters im Frühjahr 1807 wurde diese wertvolle Orgel von Großherzog Karl Friedrich von Baden der katholischen Gemeinde in Karlsruhe geschenkt. Sie konnte erst 1813 durch den Hoforgelbauer Ferdinand Stieffell und dessen Söhne etwas verändert in der neuen Pfarrkirche St. Stephan aufgestellt werden. Eberhard Friedrich Walcker (1882) und vor allem durch die Firma H. Voit & Söhne (1907) nahmen weitere Veränderungen vor, und schließlich wurde das Instrument im Jahre 1944 ein Opfer des Bombenkriegs.
An die Stelle des ursprünglichen strahlend-herben Klangs der Silbermann-Orgel trat durch die mehrfachen Umbauten allmählich ein Klangbild, das von den Extremen zwischen sanftem Säuseln und gewaltigem Brausen bestimmt war und so den Wandel in der Musikauffassung von der "Klassik" der Zeit der Aufklärung bis zur gefühlsbestimmten Spätromatik des frühen 20. Jahrhunderts widerspiegelte.
[Acta Organologica 27, 2001, 125-134]
Hans Gerd Klais
Zinn, Blei und ihre Gemenge bei Orgelpfeifen.
Probleme bei Restaurierungen
Bisher wird weitgehend angenommen, daß es bei historischem Pfeifenmaterial in erster Linie um den Prozentsatz von Zinn und Blei geht. Meine Erfahrungen mit historischem Material zeigen jedoch, daß die Spurenmetalle für die Härtung des Materials eine wesentlich größere Rolle spielen als bisher angenommen, und daß wir dringend exakte Materialanalysen brauchen, selbst wenn diese langwierig und vor allen Dingen kostenaufwendig sind. Es hat sich auch gezeigt, daß verschiedene Arten der Analyse zu verschiedenen Ergebnissen kommen können und somit zu klären wäre, welche Analyse nun wirklich nach heutigem Stand für unsere Aufgaben die exaktesten Ergebnisse bringt.
[Acta Organologica 27, 2001, 187-204]
Franz Körndle
"Usus" und "Abusus organorum" im 15. und 16. Jahrhundert
Informationen über die Aufgaben und Pflichten der Organisten im 15. und 16. Jahrhundert sind selten. Häufiger findet man Kritik an der Organistenpraxis und Verbote. Allem Anschein nach wurde das Instrument im Stundengebet bei den Antiphonen, bei Hymnus und Magnificat, aber auch bei Responsorien, in der Messe beim Introitus, Kyrie und Gloria, der Sequenz, in der Regel alternatim mit dem Chor (der Kleriker) gespielt, ebenso das Sanctus. Credo und Offertorium trug oft allein die Orgel vor. Gerade das Credo sollte jedoch wegen des Textes gesungen werden. Das Konzil von Basel untersagte das Orgelspiel über das Gloria hinaus, Klosterreformen brachten weitere Einschränkungen für den Gebrauch des Instruments, offensichtlich ohne weitergehende Folgen. Die überall anzutreffenden Klagen über den Mißbrauch machen deutlich, daß oft zu lang gespielt wurde und weltliche Melodien sowie Tänze im Gottesdiens erklangen. Dennoch blieb der Orgel auch nach den Reformbeschlüssen des Konzils von Trient ihr Platz in der Kirche erhalten.
Im Anhang des Beitrages sind Texte von Martin ab Azpilcueta (1578) und Andrea Piscara Castaldo (1625) zur Orgelpraxis ediert und übersetzt.
[Acta Organologica 27, 2001, 223-240]
Wolfgang Nußbücker
Als selbständiger Orgelbauer in der DDR
Als Wolfgang Nußbücker im Jahre 1965 seine Werkstatt von Erfurt (Thüringen) nach Plau (Mecklenburg) verlegte, nahm eine Kette von Schwierigkeiten ihren Anfang. Zunächst war es außerordentlich schwierig, überhaupt eine Wohnung zu finden. Noch schwieriger war es, eine Werkstatt aufzubauen. Jahrelang mussten primitivste Räumlichkeiten genügen. Nur ganz allmählich konnte die Werkstatt wachsen. Der Orgelbauer hat im Laufe der Jahre nicht nur das Mauern, sondern auch das Schweißen gelernt. Die nötigen Maschinen mussten mit Hilfe von Freunden aus alten Teilen selbst gebaut werden. Auf einer Schiffswerft in Rostock entstand aus Abfallmaterial eine Zinnhobelmaschine. Es mangelte an brauchbarem Holz, und auch die übrigen Rohmaterialien wie Zinn und Blei gabe es in ausreichender Menge nur unter großen Schwierigkeiten. Diese Situation dauerte bis zur "Wende" im Jahre 1989.
[Acta Organologica 27, 2001, 135-146]
Renate Oldermann
Die Geschichte der Orgel in der Stiftskirche zu Fischbeck
In der im Landkreis Hameln-Pyrmont gelegenen romanischen Stiftskirche zu Fischbeck aus dem frühen 12. Jahrhundert ist die Anschaffung einer ersten Orgel für das Jahr 1510 urkundlich vermerkt. Nach dem in Fischbeck im Jahre 1559 eingeführten lutherischen Gottesdienst fand dieses Instrument zunächst noch weiter Verwendung. Um 1670 ließ man dann durch den Orgelbauer Christian Förner (1610-1678) eine neue Orgel mit dreizehn Registern bauen, die ihren Platz auf einer Orgelprieche über dem Hochchor der Stiftskirche fand.
Anläßlich der Renovierung und Umgestaltung der Kirche zu Beginn des 18. Jahrhunderts erhielt die Orgel einen neuen Standort auf der alten Nonnenempore im Westwerk der Kirche. Im Jahre 1734 beauftragte das Stift den Orgelbauer Johann Adam Berner aus Osnabrück mit dem Neubau der Orgel, für die eine Gesamtsumme von mehr als tausend Reichstalern aufgebracht werden mußte. Die Orgel erhielt ein Manual von zwölf, ein Pedal von sieben und ein Positiv von acht Registern im Umfang von vier Oktaven. Die Arbeiten für den barocken, noch erhaltenen Orgelprospekt vergab das Stift 1735 an einen Bildschnitzer aus Hameln.
Eine umfangreiche Überholung der mittlerweile altersschwachen Orgel nahm im Jahre 1885 die Orgelbaufirma Furtwängler & Hammer aus Hannover vor, die vier Register austauschte.
Aufgrund eines im Jahre 1897 erstellten negativen Gutachtens über den Zustand der alten Barockorgel ließ man 1904 von Furtwängler & Hammer eine neue pneumatische Orgel mit zwei Manualen von zehn und acht Stimmen, einem Pedalklavier von sechs Stimmen sowie fünf Nebenregistern zum Preis von 7.500 Mark bauen. Die 1885 ausgetauschten vier Register waren noch funktionsfähig und wurden in der neuen Orgel wiederverwendet.
Zu einem weiteren Orgelneubau durch die Firma Hammer aus Hannover entschied man sich anläßlich der im Jahre 1955 anstehenden Jahrtausendfeier des Stifts. Das neue Orgelwerk wurde der Berner-Orgel von 1734 entsprechend mit Hauptwerk, Rückpositiv und Pedal und insgesamt dreißig klingenden Registern gebaut. Aus der alten Orgel von 1904 verwendete man den Gedackt 8, der 1885 von Furtwängler & Hammer neugefertigt worden war. Die Gesamtkosten für den Orgelneubau betrugen 40.000 DM.
Im Jahre 1998 wurde die Orgel erneut als mittelmäßig eingestuft und von Seiten der Landeskirche anstelle der vorhandenen Orgel die Rekonstruktion des Instrumentes von 1734 vorgeschlagen.
[Acta Organologica 27, 2001, 109-124]
Gottfried Rehm
Zur Orgelgeschichte der evangelischen Stadtkirche Lauterbach (Hessen)
Um 1600 war hier eine Orgel vorhanden, über die nichts bekannt ist. 1672 erfolgte sehr wahrscheinlich ein Orgelneubau durch einen Orgelbauer aus Kassel mit neun Registern auf einem Manual und Pedal. Johann Friedrich Stertzing aus Eisenach erbaute im Jahre 1727 ein Instrument mit 18 Registern in zwei Manualwerken und Pedal. 1754 sollte nur eine Reparatur durch Jost Oestreich erfolgen, aber während der Arbeiten wurde ein völliger Neubau daraus (mit der Disposition von 1727).
Für die neu erbaute Kirche lieferte Philipp Ernst Weegmann 1768 eine Orgel mit 24 Stimmen, deren schöner, breiter Prospekt erhalten ist. Da dieser Prospekt fast identisch ist mit den Orgeln des Johann Markus Oestreich, hat Dieter Großmann die Theorie aufgestellt, daß möglicherweise Johann Markus Oestreich am Bau beteiligt war.
1906 erbaute Friedrich Weigle hinter diesem Oestreich-Prospekt ein neues Orgelwerk nach pneumatischem System mit 29 Stimmen, darunter vier Seraphon-Register (Starktonstimmen mit zwei Labien auf normalem Winddruck). Im Jahre 1952 versuchte man, den Klang durch Austausch einiger Register "aufzuhellen".
1979 wurde die Weigle-Orgel durch eine neues Instrument der Firma Hermann Hillebrand mit 35 Registern ersetzt. Der Prospekt von 1768 blieb erhalten.
[Acta Organologica 27, 2001, 9-20]
Wolfgang Rehn
Gedanken zu Fragen der Orgelrestaurierung im neuen Jahrhundert.
Pflichten, Rechte und Möglichkeiten des Restaurators
Anhand von Beispielen aus der Restaurierungspraxis werden Probleme im Spannungsfeld zwischen denkmalpflegerischen, funktionalen und musikalischen Ansprüchen bei Orgelrestaurierungen geschildert. Die sich stetig wandelnden Auffassungen über die "richtige" Restaurierung von Orgeln führten in der Zeit zwischen dem Zweiten Weltkrieg und der Gegenwart zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen. Diese reichten vom technischen Neubau unter Verwendung alter Pfeifen bis hin zur Erhaltung eines gewachsenen Bauzustands.
Sehr oft waren Restaurierungen mehr von bestimmten Ideologien geprägt, als von klaren Spuren an den Instrumenten selbst oder von den Ergebnissen der Archivforschung. Manche Arbeiten drücken die Auffasung ihrer Zeit klar aus und wurden mit viel Einfühlungsvermögen und handwerklichen Können durchgeführt. Selbst wenn man bei bestimmten Punkten heute mit Sicherheit anders entschieden würde, können die Ergebnisse dieser Restaurierungen durchaus erhaltungswürdig sein. Viele "Restaurierungen" wurde aber leider möglichst billig und handwerklich unzulänglich ausgeführt, so dass solche Arbeiten schon aus technischen Gründen keinen langen Bestand haben können.
Auch für die Zukunft kann es kein Patentrezept geben. Jeder Fall muss für sich beurteilt werden, und die Individualität jeder Orgel ist anzuerkennen. Insbesondere bei der Restaurierung von Pfeifen zeigt sich, dass man man viele Eingriffe der Vergangenheit nicht gänzlich eliminieren kann, wenn gleichzeitig originale Substanz erhalten bleiben soll.
Da Restaurierungsprojekte heute bereits Instrumente aus dem 19. und 20. Jahrhundert umfassen, wird der Aufgabenbereich der Orgelrestaurierung immer umfangreicher. Es gilt, den großen kulturellen Schatz unserer vielfältigen Orgellandschaften zu erhalten. Dabei müssen wir allen Instrumententypen frei von Ideologien und Vorurteilen gegenüberstehen. Jede Orgel soll ihre individuelle Geschichte behalten, und der Restaurator darf nicht versuchen, Geschichte neu zu schreiben und zu vereinheitlichen!
[Acta Organologica 27, 2001, 179-186]
Martin Staehelin
Die Orgeltabulatur des Adam Ileborgh. Manuskriptgeschichte, -gestalt und -funktion.
Die Orgeltabulatur des Adam Ileborgh vom Jahre 1448 ist auch nach langen Jahren der Forschung eine besonders rätselhafte Quelle geblieben. Das liegt wesentlich auch daran, daß sie nur ganz wenigen Forschern im Original vorgelegen hat. Der hier zu referierende ausführliche Text basiert auf der dem Verfasser unlängst gewährten Möglichkeit, das Originalmanuskript der Tabulatur einzusehen; es wird in seiner äußeren Gestalt im vorliegenden Beitrag eingehend beschrieben.
Diese Beschreibung vermag denn auch auf eine überraschende Eigentümlichkeit des Manuskriptes hinzuweisen. Nicht, wie der lange Zeit grundlegende Ileborgh-Aufsatz von Willi Apel von 1934 und verschiedene Folgeautoren danach behaupteten, weist die Originalhandschrift ein angebliches Blattformat von 28 x 21 cm auf: vielmehr zeigt sie ein ausgesprochenes Miniaturformat von bloßen 14,2 x 10,7 cm. Dieser Befund, zusammen mit dem für Tabulaturen dieser Zeit ungewöhnlichen Pergament-Beschreibstoff, einer relativ kalligraphischen Notation der Tabulatur und einer ebenfalls ungewöhnlichen förmlichen Ankündigung des ganzen folgenden musikalischen Inhaltes, läßt vermuten, daß hier weniger eine Gebrauchs- als vielmehr eine Dedikationshandschrift vorliegt, nach Material und Format orientiert wohl am Vorbild der gleichzeitigen französischen Chansonniers, wenngleich weniger kunstvoll ausgestattet und eben mit Tabulatur-, nicht mit mensuraler Chansonmusik beschrieben. Wem diese Dedikationshandschrift zugedacht gewesen sein könnte, ist nicht eruierbar, wie insgesamt auch andere wichtige Fragen unbeantwortet bleiben, die sich zu dem Manuskript stellen; die Forschung ist aufgerufen, in Zukunft über die hier benannten Probleme und Erklärungsanregungen weiter nachzudenken.
Der Text gibt überdies ausführliche Angaben zur Forschungsgeschichte, auch zur Geschichte im Manuskript im 19. Jahrhundert; im Anhang wird ein Schema der Lagengestalt sowie eine genaue Wiedergabe der Beischriften des Manuskriptes geboten, wie sie durch die Prüfung des Originals möglich geworden sind.
[Acta Organologica 27, 2001, 209-222]
Martin Staehelin
Zu den "Gebrauchszusammenhängen" älterer Orgeltabulaturen
Der hier beschriebene Text geht von zwei Beobachtungen aus, die sich in vielen älteren Orgeltabulaturen anstellen lassen und die sich nicht auf die Tabulaturnotation oder die damit eingetragene Musik, sondern aus das Textbeiwerk beziehen, wie es in Stücktiteln, Wortformulierungen, Kommentaren oder Hinweisen hervortritt. Seine Untersuchung vermag die "Gebrauchszusammenhänge" zu erhellen, in denen die Tabulaturen stehen.
1. Orgelmusik-Quellen des 15. Jahrhunderts und ihre Schreiber lieben es, Stücke, mit dem Adjektiv "bonum", gelegentlich auch "pulchrum" zu versehen. Diese Bezeichnungspraxis fehlt in mensural-vokalen Quellen, lebt jedoch im 16. Jahrhundert in vergleichbaren Betitelungen in Lautentabulaturen nach, dort zuweilen auch in deutscher Sprache. Auffälligerweise treten solche Markierungen jedoch nicht bei in Tabulaturen abgesetzten Vokalsätzen, sondern nur bei von Anfang an für das entsprechende Instrument intendierten Sätzen auf; vergleichbare Vermerke außerhalb deutscher Quellen fehlen fast ganz. Aus der Übersicht über die Belege und deren Interpretation ergibt sich der Eindruck, daß diese Bezeichnungen nicht eine spieltechnische Güte, sondern vielmehr einen künstlerischen Wert der entsprechenden Komposition meinen.
2. Auffällig ist auch, daß die Tabulaturschreiber es lieben, die eingetragenen Stücke zu Beginn oder häufig auch am Ende mit Vermerken wie "incipit...", "sequitur..." oder "finitur..." u.ä. zu versehen. Auch diese Praxis fehlt in gleichzeitigen mensuralen Quellen in und außerhalb Deutschlands. Offenbar steht hinter dieser Übung das Bemühen um die Verdeutlichung der anscheinend als unübersichtlich empfundenen Musik-Niederschriften auf den Tabulatur-Blättern.
3. Führt man diese Beobachtungen insgesamt zusammen und versucht man, Einsichten daraus zu ziehen, so bestätigt sich zunächst, wie sehr Orgeltabulaturen Gebrauchsmanuskripte waren. Die genannten Verdeutlichungshinweise darf man sodann in deutlicher Parallele zu einer entsprechenden und häufigen Praxis in spätmittelalterlichen Text-Sammelhandschriften sehen: die oft unübersichtliche Form auch dieser Eintragungen empfahl es, solche den Blick des Lesers leitenden Hinweise aufzunehmen. Und schließlich ergeben sich aus diesen Beobachtungen in gewissem Rahmen auch sozialgeschichtliche Hinweise auf die Tabulaturschreiber und -spieler: oft werden sie Lehrer von einer gewissen, wenngleich nicht allzu hohen Bildung gewesen sein, Musiker, die freilich das Orgelspiel auch in seinen musikalischen Schönheiten genossen haben dürften.
[Acta Organologica 27, 2001, 241-247]